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dur & moll - tonartencharakteristik

und, angeknüpft an die vorige frage nach der traurigen hymne der niederländer: was genau an dieser hymne empfinden wir (oder nur ich?) als traurig? warum erscheinen uns, zumindest in unserem kulturkreis, musikstücke in moll eher als “traurig” oder “melancholisch” im gegensatz zum dur? warum wirkt der simple trick, die letzte strophe eines liedes einen halben ton höer zu singen, so oft ergreifend? ist das reine naturwissenschaft? wirken hier physikalische größen aufeinander?

Nein, sagt Reinhard Kopiez in einem Artikel zu genau dieser Frage: “Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese subjektive Empfindung […] nicht eindeutig zu begründen.”

aha… Die Charakteristik der Tonarten sagt zu e-moll:

  • weiblich, liebend, traurig (Charpentier 1690)
  • tröstende Traurigkeit, tiefsinnig, manchmal lebhaft, aber nicht glücklich (Mattheson 1713)
  • naiv, das arglose Eingeständnis weiblicher Liebe, Seufzer mit wenigen Tränen, wie bei einem weiß gekleideten Mädchen mit einem rosafar- benen Band um den Busen; völlig zufrieden werden Herz und Ohr, wenn man von e-Moll nach C-Dur zurückkehrt (Schubart ca. 1780)

hier noch mehr zitate zur Tonartencharakteristik in der Musikanschauung
des 17. bis 19. Jahrhunderts

ein übersichtsartikel zum tonartencharakter bei wikipedia.
vertiefend dort ein ausführlicher artikel über die grundlegenden modi.

aus einem artikel von Albert Wellik, Das absolute Gehör und der Charakter der Töne und Tonarten:
“Der Ton nämlich– das ist das grundsätzliche Mißverständnis– ist eine psychologische und nicht eine physikalische, exakt an die Schwingungszahl gebundene Tatsache. D. h. (mit Keyserling zu reden): wie immer, schafft auch hier die Bedeutung den Tatbestand. So kann akustisch ein und derselbe Ton auf dem Klavier zwei psychologisch, d. h. musikalisch durchaus entgegengesetzte Tatbestände: ‘cis’ und ‘des’ bedeuten und mithin tatsächlich auch erschaffen.”

Meyers Konversationslexikon von 1888 sagt dazu: “Der verschiedene Charakter der Tonarten ist kein leerer Wahn, hängt aber nicht, wie man hier und da lesen kann, von der ungleichartigen Temperatur der Töne ab (nämlich C dur als am reinsten gestimmt gedacht), sondern ist eine ästhetische Wirkung, die in der Art des Aufbaues unsers Musiksystems ihre Erklärung findet.”

da gibts also noch viel zu studieren, um der sache auf den grund zu gehen…

  1. Bernd Willimek | 07.11.2013 | 16:05

    Warum klingt Moll traurig?
    Das größte Problem bei der Beantwortung der Frage, warum Moll traurig klingt, dürfte wohl in der Tatsache liegen, dass Moll auch manchmal nicht traurig klingt. Die Lösung dieses Problems ist die Strebetendenz-Theorie. Sie sagt, dass Musik überhaupt keine Emotionen vermitteln kann, sondern nur Willensvorgänge, mit denen sich der Musikhörer identifiziert. Beim Vorgang der Identifikation werden die Willensvorgänge dann mit Emotionen gefärbt.
    Bei einem Durakkord in bestimmtem harmonischen Kontext identifiziert sich der Hörer beispielsweise mit einem Willensinhalt, der in etwa der Aussage “Ja, ich will” entspricht. Ein Mollakkord - in bestimmtem Kontext gespielt - bewirkt dagegen die Identifikation mit einem Willensinhalt, der in etwa der Aussage “Ich will nicht mehr” entspricht. So kann dieser Willensinhalt “Ich will nicht mehr” beispielsweise als traurig oder als wütend erfahren werden, je nachdem, ob ein Mollakkord relativ laut oder leise gespielt wird. Wir unterscheiden hier genauso, wie wir unterscheiden würden, wenn jemand die die Worte “Ich will nicht mehr” einmal leise und einmal laut schreiend von sich geben würde. Ähnliche Identifikationsvorgänge kann man übrigens beobachten, wenn wir einen spannenden Film anschauen und uns mit den Willensvorgängen unserer Lieblingsfigur identifizieren. Auch hier erzeugt erst der Vorgang der Identifikation Emotionen.
    Da der Umweg der Emotionen über Willensvorgänge in der Musik nicht erkannt wurde, scheiterten auch alle musikpsychologischen und neurologischen Versuche, die Ursache der Emotionen in der Musik zu ergründen. Der Erfolg dieser Versuche würde in etwa einem Menschen entsprechen, der einen Fernsehapparat aufschraubt und darin mit der Lupe nach den Emotionen sucht, die er zuvor beim Ansehen eines Films empfunden hatte.
    Doch wie kann Musik Willensvorgänge vermitteln? Diese Willensvorgänge haben etwas mit dem zu tun, was alte Musiktheoretiker mit Vorhalt, Leitton oder Strebetendenz bezeichnet haben. Wenn wir diese musikalische Erscheinungen gedanklich in ihr Gegenteil umkehren, dann haben wir in etwa den Willensinhalt umrissen, mit dem sich der Musikhörer identifiziert. In der Praxis wird dann alles noch etwas komplizierter, so dass sich auch konkretere Willensinhalte musikalisch darstellen lassen.
    Weitere Informationen erhalten Sie über den kostenlosen Download des fünfteiligen Artikels “Warum klingt Moll traurig? Die Strebetendenz-Theorie erklärt das Gefühl in der Musik” des Onlinemagazins “musik heute” unter dem Link:
    http://www.musik-heute.de/tags/strebetendenz-theorie/
    oder über den kostenlosen Download des E-Book der Universität München “Musik und Emotionen - Studien zur Strebetendenz-Theorie”:
    http://ebooks.ub.uni-muenchen.de/26791/
    Eine kurze Darstellung der Strebetendenz-Theorie, die extra für Laien verfasst wurde, findet sich hier: www.willimekmusic.de/erklaerung-strebetendenz-theorie.pdf
    Bernd Willimek

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